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von Günther Birkenstock 17. November 2024

Deutschland steht am Scheideweg. Es kommt darauf an, dass nun im Angesicht einer beabsichtigten Neuwahl im Frühjahr 2025 die Weichen richtig gestellt werden. Gegenwärtig sieht es nach einem Sieg der Union von CDU/CSU aus und einem neuen Kanzler Friedrich Merz. Wird das die Lösung sein?  

·         Die CDU – schlimmer als die Ampel? Die drei Jahre „Ampel-Regierung“ haben uns in eine schwere Krise gebracht. Diese wurde im Wesentlichen verursacht durch die ideologische Ausrichtung der Grünen, die mit ihrem „Klima-Wandel-Wahn“ die anderen Parteien angesteckt haben . Hinzu kommt die anti-liberale Haltung dieser Partei, die in der Befürwortung von Waffenlieferungen an die Ukraine gipfelt, sodass diese einstmalige Friedenspartei zur Kriegstreiberpartei mutiert ist. Sie hat mit ihrer „Verbotspolitik“ mit dafür gesorgt, dass Deutschland mit einer überbordenden Bürokratie zu kämpfen hat. Wenn wir aber zurückblicken, dann sind die 16 Jahre CDU/CSU-geführte Regierungen unter Angela Merkel der jetzigen Regierung vorausgegangen. Diese Regierungen haben eine Reihe von Gesetzen verabschiedet, die zumindest einen zweifelhaften Charakter haben, denn sie haben die Rechte von Bürgern eingeschränkt oder sogar massiv beschnitten [1] :

o   Allgemeines Gleichstellungsgesetz (2005): Dieses Gesetz hatte die hehre Absicht, vor sogenannten Diskriminierungen zu schützen, hatte aber den Pferdefuß, dass es eine Welle von Klagen ausgelöst und das so genannte „AGG-Hopper“-Phänomen beschert hat, wonach sich Personen nur auf bestimmte Stellen bewerben, um anschließend wegen angeblicher Diskriminierung zu klagen [2] . Außerdem wurde eine so genannte „Antidiskriminierungsstelle“ geschaffen, die eine weitere Aufblähung des Staatsapparates gebracht hat.

o   Gesundheitsreform (2007): Statt einer strukturellen Reform wurde mehr Bürokratie eingeführt und der Wettbewerb der Anbieter auf dem Gesundheitsmarkt unterbunden [3] .

o   Aussetzung der allgemeinen Wehrpflicht (2011): Die Einführung eines „Berufsheeres“ hat die Verankerung der Armee in der Bevölkerung durch die Aufhebung der allgemeinen Wehrpflicht verringert. Diese Reform zerstörte das bis dahin bewährte System des Einzugs von Wehrpflichtigen mit der Ausnahme, dass bei jungen Männern, die aus Gewissensgründen den Dienst an der Waffe ablehnten, der Zivildienst als Alternative blieb.

o   Beschluss über den Atomausstieg (2011): Die damalige Bundeskanzlerin drängte nach dem Reaktorunglück in Fukushima in Japan, bei dem durch einen Tsunami ein Reaktor beschädigt wurde und dabei radioaktives Material ausgestoßen worden war, auf den Ausstieg aus der Erzeugung von Strom durch Kernkraftwerke.

o   Das „unbestimmte Gesetz“ (2013): Das Personenstandsgesetz wurde geändert, wonach das Geschlecht eines geborenen Kindes nicht mehr in der Geburtsurkunde festgehalten werden muss, sodass „wenn ein Kind weder dem männlichen noch dem weiblichen Geschlecht zugeordnet werden kann, die Angabe in das Geburtenregister weggelassen wird" [4] . Diese Gesetzesänderung kann als Vorläufer des seit dem 01.11.2024 geltenden Selbstbestimmungsgesetzes angesehen werden.

o   Doppelte Staatsbürgerschaft (2014): Das Staatsangehörigkeitsrecht wurde dahingehend geändert, dass Kinder von ausländischen Bürgern, die acht Jahre in Deutschland gelebt oder sechs Jahre zur Schule gegangen sind, sich nach der Vollendung des 21. Lebensjahres nicht mehr für eine Staatsangehörigkeit entscheiden müssen, sondern ihre ausländische Staatsangehörigkeit neben der deutschen behalten können [5] .

o   Öffnung der Grenzen (2015): Merkel hatte angesichts des Ansturms von Flüchtlingen sich dafür entschieden, die Grenzkontrollen auszusetzen, um die Einwanderung von geflüchteten Personen zuzulassen. Diese Entscheidung basierte auf der Angst vor „unangenehmen Szenen“ an deutschen Grenzen, wenn dort die einreisewilligen gewaltsam am Grenzübertritt gehindert würden. Mit dem ominösen Satz „Wir schaffen das“ [6] hat sie ganz Deutschland in eine Art „Zwangshaft“ genommen, die grenzenlose Aufnahme von Asylanten zu unterstützen.

o   Frauenquote (2015): „Die 30-Prozent-Quote gilt für die Aufsichtsräte von voll mitbestimmungspflichtigen und börsennotierten Unternehmen, die ab 2016 neu besetzt werden. Ab 2018 soll der Frauenanteil auf 50 Prozent erhöht werden“ [7] . Damit wurde der Grundstein für ähnliche Modelle in Unternehmen und Parteien gelegt.

o   Ehe für alle (2017): Gleichgeschlechtliche Paare können heiraten und werden rechtlich den heterosexuellen Paaren im Adoptions-, Steuer- und Erbschaftsrecht gleichgestellt. [8] Damit wurde der Grundstein für die so genannte „LGBTQ+“-Bewegung gelegt [9] .

o   Fachkräfteeinwanderungsgesetz (2019): Dieses Gesetz, das die Einreise von ausländischen Arbeitnehmern erleichtern sollte, hatte leider mehr Bürokratie als Einwanderer gebracht [10] .

o   Gebäudeenergiegesetz (2020): Das Gesetz wurde bereits unter CDU-Führung beschlossen und von der Nachfolgeregierung verschärft.

Diese Gesetze haben vielfach den Weg geebnet zu Entwicklungen, die zu einem „bevormundenden Staat“ führen, bei dem die liberalen Grundsätze, wie sie im Grundgesetz verankert sind, ad absurdum geführt werden. Nicht vergessen werden sollten die Einschränkungen in der „Corona-Zeit“, in der durch die Änderungen des Infektionsschutzgesetzes die Freiheitsrechte von Bürgern massiv beschnitten wurden.

·         Die AfD als das schlechte Gewissen der CDU: Die CDU hatte noch zu Zeiten von Helmut Kohl ein konservatives Profil, denn es wurden die „christlichen Einstellungen“ zur Ehe und Familie hochgehalten und die nationalen Rechte – eingeschränkt durch die westliche Ausrichtung bedingt durch die Mitgliedschaft in der NATO und durch die Folgen der Zeit der Besatzung Deutschlands durch die alliierten Mächte – verteidigt. Unter Kohl wurde als einen Höhepunkt dieser Politik die deutsche Einheit erreicht. Als 2013 die AfD gegründet wurde [11] , geschah dies in der Zeit, als die CDU unter Angela Merkel dieses Profil immer mehr aufgegeben und sich dem links-grünen Zeitgeist angepasst hatte. Die AfD stellte seit ihrem Erstarken eine zunehmende Gefahr dar, weil sie das „schlechte Gewissen“ der CDU symbolisierte, die es einmal gab, als sie selbst die konservativen Positionen vertrat, die danach von der AfD aufgegriffen wurden. Die Abgrenzung zur AfD in Form einer so genannten „Brandmauer“ geht vor allem auf Friedrich Merz zurück, der eine solche scharfe Abschottung gegenüber der AfD im Jahr 2021 anlässlich seiner Wahl zum Parteivorsitzenden proklamiert hatte. Seit dem hat sich im Wesentlichen daran nichts geändert [12] . Diese „Brandmauer“ wirkt psychologisch gesehen wie der Abwehrmechanismus der Verdrängung, durch den unliebsame psychische Inhalte ins Unbewusste verschoben werden. Hier ist es der Versuch einer Partei, die Anwesenheit der AfD als Gesprächs- oder sogar als Koalitionspartner zu leugnen, weil diese Abwehr notwendig ist, um das eigene Gewissen zu beruhigen. Wer diese „Brandmauer“ versucht infrage zu stellen, wird ebenfalls zum Feind erklärt. In einer Art Rechtfertigungszwang wird diese Abschottung aufrechterhalten, um nicht zugeben zu müssen, dass die AfD in einigen Punkten recht hat.

·         Machtwechsel möglich – aber nicht gewollt : Es wäre ein Machtwechsel auch ohne eine Vertrauensfrage durch den Kanzler Olaf Scholz möglich, wenn Friedrich Merz den Mut hätte, „über den eigenen Schatten zu springen“, um in einem konstruktiven Misstrauensvotum nach Art 67 GG mit den Stimmen der AfD, FDP und vielleicht noch denen von freien Abgeordneten (und evtl. denen von BSW – aber es ginge auch ohne) sich selbst zum Kanzler wählen zu lassen. Die Sitzverteilung der Parteien [13] erlaubt eine solche Ablösung, da die Union mit 196 Stimmen, AfD mit 76 Stimmen und FDP mit 90 Stimmen bereits über 362 Stimmen verfügen. Rechnet man noch die Stimmen der freien Abgeordneten hinzu (9), könnte Merz 371 Stimmen bekommen oder auf die Zustimmung der BSW (10) hoffen, sodass er 372 Stimmen erhalten könnte. In beiden Fällen wäre die absolute Mehrheit von 367 – über 50 % von 733 Sitzen im gegenwärtigen Bundestag – erreichbar. Warum nimmt er aber diese Möglichkeit nicht wahr? Es liegt an der selbst gelegten „Brandmauer“ gegenüber der AfD, die dies verhindert. Er würde sich selbst mit diesem Schritt ad absurdum führen. Prof. Rieck erklärt dieses Verhalten damit, dass Politiker eigentlich nicht sachthemenorientiert sind, sondern eigentlich primär nur ihre eigenen Interessen im Auge haben. Hierbei würde spieltheoretisch so gehandelt, dass bei politischen Entscheidungen die eigenen Vorteile überwiegen sollen, was vor allem dann der Fall ist, wenn die eigenen Präferenzen unabhängig sind von anderen Faktoren. Da aber eine Aversion gegen die AfD besteht, wird die Option, mit dieser Partei zusammenzuarbeiten nicht gewählt, weil dann diese Unabhängigkeit verloren geht [14] . Dies bedeutet, dass allein aufgrund dieser sachfremden Erwägung heraus, dieses konstruktive Misstrauensvotum nicht als Möglichkeit ins Kalkül gezogen wird.

 

Sitzverteilung Bundestag

absolut

Zw. Summen

CDU/CSU

196

 

AfD

76

 

FDP

90

 

BSW

10

372

fraktionslose Abgeordnete

9

371

SPD

207

 

Die Linke

28

 

Grüne

117

352

 

 

 

Alle

733

 

absolute Mehrheit

367

 

·         Willfährige Medien und vergessliche Wähler : Es ist nicht wenig überraschend, dass die „Mainstreammedien“ die Option des konstruktiven Misstrauensvotums kaum thematisieren, weil sie willfährig der Propaganda der „Altparteien“ folgen. Diese Strategie hat eine gewisse Tradition, da diese bereits in der Corona-Krise angewandt wurde, indem bereitwillig die Regierungspropaganda aufgriffen und gegen die Maßnahmengegner („Coviditioten“, „Pandemie der Ungeimpften“) vorgegangen wurde. Nun wollen sie es sich anscheinend mit den Hauptakteuren (Union, SPD) nicht verscherzen und propagieren als einzige Möglichkeit die Vertrauensfrage. Die Wähler hingegen gehen schon wieder der über diese Medien verbreitete Propaganda auf den Leim und präferieren erneut die Union (32 % laut aktuellen Umfragen [15] ), obwohl sie eigentlich wissen müssten, dass viele der heutigen Probleme nicht die „Ampelparteien“ zu verantworten haben, sondern die CDU/CSU. Die Migration wurde von Angela Merkel den Deutschen „aufgerückt“, der „Atomausstieg“ von ihr eingeleitet und der Niedergang des Ansehens der traditionellen Werte über Ehe und Familie über Bord geworfen, um nur einige Beispiele zu nennen. Eigentlich müsste die AfD in den Umfragen vorne liegen, aber auch hier wirkt die negative Propaganda gegen diese Partei, die von den „Altparteien“ gegen diese Partei betrieben und von den Medien bereitwillig aufgegriffen wurde [16] . Die Wähler lassen sich also manipulieren und verweigern ein Umdenken, um einen wirklichen Wechsel in der Politik zu erhalten, denn die CDU/CSU wird entweder wieder mit der SPD koalieren oder mit den Grünen, sodass im Endergebnis keine Änderung erfolgen würde.

·         Merz als Gefahr : Die Wahl von Donald Trump zum nächsten US-Präsidenten nährt die Hoffnung, dass es dieser schaffen wird, den Krieg in der Ukraine gemeinsam mit seinem russischen Amtskollegen Putin Anfang nächsten Jahres zu beenden. Wenn dies nicht gelingt und Friedrich Merz neuer Bundeskanzler wird, dann besteht die Gefahr, dass der Konflikt eskaliert. Während Olaf Scholz stets zurückhaltend war im Hinblick auf den Einsatz von Taurus-Raketen [17] , mit denen aufgrund der großen Reichweite Ziele in Russland angegriffen werden könnten [18] , wendet sich Merz dagegen, der den Einsatz dieser Flugkörper befürwortet [19] . Brisanz erhält diese Haltung, weil gleichzeitig die Grünen, insbesondere Robert Habeck, sich für die Lieferung der Marschflugkörper an die Ukraine ausgesprochen haben [20] . Würde es tatsächlich zu einer Koalition der Union und den Grünen kommen, könnte dies zu einer Verschärfung des Konfliktes beitragen und der dritte Weltkrieg stände möglicherweise kurz bevor. „Schützenhilfe“ erhält Merz hierbei auch noch ausgerechnet von der katholischen Kirche [21] . Es ist schon fast makaber, dass sich ein „Friedensbeauftragter“ der evangelischen Kirche bereits 2023 für den Einsatz von Taurus-Raketen ausgesprochen hat [22] . Verdächtig sind auch Äußerungen von Merz, dass er gerne das auf Konten liegende Privatvermögen von 2,8 Billionen EUR „mobilisieren“ will, um sie in die marode Infrastruktur zu stecken. Es wird also nicht primär an Einsparungen gedacht (Bürgergeld, Entwicklungshilfe), sondern er will wieder nur die Staatseinnahmen erhöhen [23] . Es ist außerdem zu befürchten, dass viele Ankündigungen (Abschaffung des Gebäudeenergiegesetzes, Verschärfung der Asylregeln mit Zurückweisung an den Grenzen) mit einem SPD- oder Grünen-Partner nicht umgesetzt werden würden, weil dies dann die Koalition gefährden und ihm den geplanten Bundeskanzlerposten kosten würde.    

Die Aussichten sind nicht rosig und wer jetzt noch denkt, mit der Wahl der CDU oder CSU würde sich etwas zum Besseren wenden, wird spätestens nach der Wahl aus seinen Träumen erwachen. Die Wahlen im Osten des Landes sollten eine Lehre sein, dass man den Unions-Parteien nicht vertrauen kann.

 

© beim Verfasser

 



[1] Die folgende Auflistung entstammt einem Video aus einem Beitrag von der Youtuberin „Lil“ (Warum kritisch) https://www.youtube.com/watch?v=Ddl-5MfkKW4    

[9] L = Lesbian  ( lesbisch , homosexuelle Frauen), G = Gay  (schwul, homosexuelle Männer), B = Bisexual  ( bisexuell , Personen, die sich emotional, romantisch und/oder sexuell zu Männern und Frauen hingezogen fühlen), T = Transgender  (transgender, manchmal auch Transsexualität  oder Transidentität: Geschlechtsidentität stimmt nicht mit dem biologischen Geschlecht überein), Q = Queer  ( queer : ein Sammelbegriff für Personen, die von der heteronormativen Geschlechts- oder Sexualnorm abweichen, einschließlich verschiedener sexueller Orientierungen und Geschlechtsidentitäten), Was bedeutet LGBTQ+? Diese Kürzel solltest du kennen (desired.de)

 

[12] Brandmauer? Welche Brandmauer?: Merz' Behauptung stimmt nicht - und wirft Fragen auf - n-tv.de : Im Dezember 2021 sagte er dem „Spiegel“: „Mit mir wird es eine Brandmauer zur AfD geben. Die Landesverbände, vor allem im Osten, bekommen von uns eine glasklare Ansage: Wenn irgendjemand von uns die Hand hebt, um mit der AfD zusammenzuarbeiten, dann steht am nächsten Tag ein Parteiausschlussverfahren an.“

[15]  Wenn am kommenden Sonntag Bundestagswahl wäre, würde die CDU /CSU daraus als stärkste Kraft hervorgehen. Das zeigt eine INSA-Umfrage vom 16.11.2024. Nach den Zahlen der Demoskopen würde die Partei von 32 Prozent der Bevölkerung gewählt und läge damit 13 Prozentpunkte vor der AfD, die mit 19 Prozent zweitstärkste Kraft würde. Auf Platz drei folgt in der Umfrage die SPD mit 16 Prozent, die Grünen kämen aktuell auf 10 Prozent. Das Bündnis Sahra Wagenknecht würde 8 Prozent der Stimmen bekommen. Die Linkspartei läge den aktuellen Prognosen zufolge bei 4 Prozent und würde somit an der 5-Prozent-Hürde scheitern. Sonntagsfrage Bundestag vom 16.11.2024: CDU/CSU mit höchstem Stimmenanteil in aktueller Wahlumfrage | news.de

[18] Die Raketen haben eine Reichweite von 500 km und werden von einem Flugzeug aus gestartet, das dabei nicht einmal in den feindlichen Luftraum eindringen muss; Taurus: Ringtausch, Lieferung, Kritikpunkte – darum geht es in der Debatte (wiwo.de)

von Günther Birkenstock 3. November 2024

Als Sozialarbeiter hatte ich immer wieder mit Menschen zu tun, deren Leben chaotisch gelaufen war, weil ihnen etwas fehlte, was für die Steuerung, für die Ordnung unerlässlich ist: Struktur. Im Fürsorgejargon nannte man es „Verwahrlosung“, wenn die innere Unordnung der äußeren entsprach und nur noch drastische Maßnahmen halfen, diesen Personen zu helfen. Der „strukturierte Mensch“ scheint das genaue Gegenteil des chaotischen oder unordentlichen Menschen zu sein. Wer oder was ist aber der strukturierte Mensch?

·         Ordnung ist das halbe Leben: Wer Ordnung hat, ist nur zu faul zum Suchen, sagt ein altes Sprichwort [1]. Ordnung könnte man auch so definieren, dass sie nämlich die Fähigkeit ist, alles so zu sortieren, dass man weiß wo was ist. Ich unterscheide zwischen „systematischer“ und „ästhetischer Ordnung“. Wer systematisch Ordnung hält, hat ein System, nach dem alles so abgelegt oder sortiert ist, dass eben alles auf Anhieb auffindbar ist. Dabei ist es unerheblich, ob diese Ordnung auch tatsächlich schön aussieht [2]. Wer nach ästhetischen Gesichtspunkten Ordnung halten will, der möchte dann im Gegensatz hierzu erreichen, dass der äußere Schein gewahrt bleibt, also äußerlich erkennbar ist, dass es eine Ordnung gibt. Diese äußerlich erkennbare Ordnung muss aber nicht direkt auf eine innere Ordnung schließen lassen [3]. Die äußere und innere Ordnung müssen sich eben nicht immer entsprechen, obwohl viel dafür spricht, dass es i. d. R. so ist. Wer in seinen Gedanken oder in seinem Gefühlsleben in eine Art Unordnung gerät, wird dies auch nach außen durch unsaubere Kleidung oder mangelnde Hygiene zeigen. Ein psychisch kranker Mensch, dessen Seelenleben in Unordnung geraten ist, wird auch nicht mehr auf sein äußeres Erscheinungsbild achten, wird dazu neigen, auch in seinen Unterlagen über seine persönlichen Verhältnisse den Überblick zu verlieren.

·         Struktur – mehr als nur Ordnung : Struktur zu haben heißt, dass zu der Ordnung noch etwas anderes hinzukommt, was über das pure Ordnunghalten hinausgeht. Struktur bedeutet Klarheit und Übersicht in einem. Es wird in einer Struktur die Ordnung sichtbar gemacht und in der Übersicht durch eine Art graphische Darstellung die Ordnung vor unserem physischen Auge aufgezeigt. Das Organigramm [4] vereint diese beiden Merkmale einer äußeren Struktur, weil hiermit die Zuständigkeiten z. B. in einem Betrieb für einen Außenstehenden sichtbar werden. Struktur bedeutet in unserem Alltag eine Hilfe zur Orientierung, damit man nicht den Überblick verliert und klar erkennt, was wichtig oder unwichtig ist. In einer Mediation ist die Sichtbarkeit der vorgetragenen Aspekte des eigenen Standpunktes für die Kontrahenten eines Konfliktes unverzichtbar, was etwa durch an eine Pinnwand angeheftete Blattstreifen mit den wichtigsten Begriffen der vorgetragenen Standpunkte geschehen kann. Der Tagesablauf erfordert eine Struktur (Tagesstruktur), die z. B. bei Menschen verloren gehen kann, wenn sie arbeitslos werden. Diese Struktur verhilft uns zu unterscheiden, wann eine aktive Phase des Arbeitens angesagt ist oder wann Ruhepausen notwendig sind. Der Tag-Nacht-Rhythmus kann durcheinander geraten bei Menschen mit einer psychischen Erkrankung oder einem Menschen mit einer Demenz. Die notwendigen Hilfen bestehen dann in dem Setzen von äußerlich erkennbaren Anreizen, diese Struktur wieder herzustellen. Ohne diese Struktur werden wir planlos herumirren und wir verlieren das Ziel für unsere Handlungen aus dem Blickfeld. Gleichzeitig wird neben dem Zielverlust auch die Planungssicherheit verloren gehen und damit ein chaotisches Wirrwarr von Vorgehensweisen sichtbar, die zu nichts führen außer planlosem Experimentieren. Der strukturierte Mensch ist stets Herr des Geschehens, weil er in seinen Zielvorstellungen klar ist, er aber auch Methoden beherrscht, nach den gesetzten Zielen vorzugehen, um diese zu erreichen.

·         Diabolos, der teuflische Verführer : Es gibt auch eine Bezeichnung für die geistige Dimension des Unruhestifters: Diabolos. Der Diabolos (aus dem Altgriechischen: Διάβολος Diábolos: „Durcheinanderwerfer [5] ) ist der Unruhstifter, derjenige, der alles verdreht, sodass nicht nur die Welt in Unordnung gerät, sondern auch die Sichtweise sich verändert. Die Wahrheit wird dann zur Lüge und die Lüge zur Wahrheit erklärt. Das Gute wird schlecht gemacht und das Böse als gut erklärt. Es wird dann behauptet, dass das Gute ohne das Böse gar nicht vorstellbar sei, sodass es deshalb unverzichtbar wäre. Die diabolische Verführung besteht im Wesentlichen eben darin, dass das Böse als das „notwendige Übel“ bezeichnet wird, weil sonst das Gute gar nicht existieren könne [6]. Jesus hatte den Teufel oder Satan als den Vater der Lüge bezeichnet (Johannes 8,44 [7] ), als denjenigen, der die göttliche Ordnung nicht nur infrage stelle, sondern diese auch zerstören wolle. Die Rebellion gegen Gott ist das wesentliche Merkmal seines Wollen und Tuns. Die Auflehnung gegen Gott gilt als die Abkehr und Verleugnung seiner Vorherrschaft durch den eigenen Anspruch, selbst Gott sein zu können. Anstelle der göttlichen Ordnung soll eine andere Ordnung treten, die angeblich besser ist. Die Welt wird als ein Schauplatz angesehen, der dazu dient, eine angeblich bessere Welt zu kreieren, auf der nach eigenen Maßstäben gehandelt wird, die sich gegen die Werte und Normen richten, die von Gott gewollt sind. Die Welt wird stets als verbesserungswürdig erklärt und jede Art von Veränderung als etwas angesehen, was auf selbst entwickelten Wertvorstellungen beruhen soll, was gern als „Selbstverwirklichung“ bezeichnet wird. Dabei ist klar, dass die materielle Welt eine ist, die dem Satan übereignet wurde und somit als ein Schauplatz angesehen werden sollte, den es zu überwinden gilt, denn sie kann prinzipiell gesehen nicht verbessert werden [8]. Die Einsicht der Weltübereignung an Satan geht aus der Versuchung von Jesus hervor, in der Satan Jesus die materiellen Reiche anbieten wollte, wenn er nur als Gegenleistung ihn als Herrscher verehren würde (denn wie konnte er diese ihm anbieten, wenn sie ihm nicht gehörte). Deshalb kann eigentlich die Welt nicht verbessert werden, weil sie von Anfang an als das Reich Satans angesehen werden kann, da er dort hin nach seiner himmlischen Rebellion hinabgeworfen wurde (Johannes 12,9 [9] ). Deshalb ist diabolische Dimension der satanischen Verführung darin bestehend, dem Menschen glauben zu machen, dass er in der Welt sei, um diese zu beherrschen und sie nach eigenen Maßstäben verändern zu können. Die diabolische Verführung besteht in der Verdrehung all dessen, was uns eigentlich heilig sein sollte: Die Wahrheit, das Gute und das Schöne [10]. Wir sollen die Lüge als ein notwendiges Mittel akzeptieren, um angeblich lautere Ziele zu erreichen. Wir sollen das Gute als relativ und veränderbar ansehen, weil es das Gute eigentlich gar nicht gäbe, sondern nur die Notwendigkeit (Utilitarismus). Und das Schöne wird als etwas angesehen, das eigentlich nicht schön sei, weil es nur eine Variante einer unendlichen Definition dessen angesehen wird, was uns als äußeres Erscheinungsbild entgegenschlägt. Danach wären die Hyänen, die Schlangen, die Fliegen und Schaben auch „schön“, aber eben aus der Sicht dieser Kreaturen. Der "strukturierte Mensch" wird dies nicht so akzeptieren, weil sich in ihm die feste Überzeugung festgesetzt hat, dass es eine von Gott gewollte Ordnung gibt, in der alles seinen Platz hat, alles einen Sinn ergibt und deshalb im Prinzip gut ist. Struktur ist für ihn das Gegenteil dessen, was der satanischen Verführung entspricht, dass nämlich alles relativ sei und deshalb das Chaos der Normalzustand ist.

·         Freiheit – trotz Ordnung: Die Ordnung mit einer festen, unnachgiebigen Struktur, hat aber auch eine Kehrseite, dann nämlich, wenn sie übertrieben wird. Schulz von Thun, der „Erfinder des Wertequadrates“ [11] , hatte in seiner gedanklichen Schöpfung dem positiven Wert stets auf der gleichen Ebene den polaren Gegensatz gegenübergestellt und in seiner negativen Übertreibung den „Unwert“ präsentiert, der auf der „unteren Ebene“ – auch graphisch so dargestellt – ähnelt, aber aufgrund seiner Überakzentuierung nicht mehr positiv wirkt. Wir wissen es aus eigener Erfahrung: Wenn etwas zu stark geordnet wird, dann gerät es zum Gefängnis, zu einem starren Gerüst, das in sich die Gefahr des Zerberstens birgt. Jede Konstruktion bedarf eines gewissen „Spielraumes“, damit sie nicht aus den Fugen gerät, wenn äußere Kräfte darauf wirken. Das trifft auf technische Konstruktionen wie Brücken und Gebäude zu, bei denen zwischen den einzelnen Bestandteil diese bewusste Lücke gelassen wird [12]. Das könnte im übertragenen Sinne auch für menschliche Gesetze gelten, die, wenn sie funktionieren sollen, einen gewissen Ermessens-Spielraum brauchen, damit nicht die Gerechtigkeit auf der Strecke bleibt. Selbst die „Zehn Gebote“ beinhalten solche Spielräume, weil sie als „Soll-Vorschriften“ gedacht sind („Du sollst nicht….“) [13]. Das Töten eines Menschen ist demnach erlaubt, wenn eine Notsituation dies erfordert (Notwehr, Sturz eines Tyrannen), das Lügen ist erlaubt, wenn damit etwas geschützt werden soll, das einen so hohen Wert genießt, dass eine sklavische Befolgung, nicht lügen zu dürfen, einen großen Schaden anrichten würde (Schutz eines Menschen vor einer ungerechten Behandlung oder Verfolgung durch ein unmenschliches Regime). Der strukturellen Ordnung steht als Gegenpol die ordentliche Variabilität gegenüber, weil diese notwendig ist, um sklavische Prinzipienreiterei zu vermeiden oder einer pedantische Überregulierung Einhalt zu gebieten, indem durch eine „Gesetzeslawine“ die individuellen Freiräume über Gebühr eingeengt werden. Wird die Variabilität übertrieben, dann landet diese in der willkürlich anmutenden Beliebigkeit, wenn es sich um moralische Fragen handelt oder es entsteht eine chaotische Unordnung, wenn es sich um andere menschliche Konstrukte handelt.

 

strukturelle Ordnung     

         ordentliche Variabilität

Pedantische Überregulierung, Prinzipienreiterei

         Chaotische Unordnung, launige Beliebigkeit

 

Strukturelle Ordnung im Wertequadrat

 

·         Das Verhältnis zum „radikalen oder spirituellen Menschen“

 

Bereits in anderen Artikeln bin ich in der Typisierung des „radikalen Menschen“ oder eines Menschen, der sich auf dem „spirituellen Weg“ befindet, der Frage nachgegangen, wie der Mensch idealtypisch sein sollte, um sich positiv weiterzuentwickeln. Es scheint, dass der „strukturierte Mensch“ gewisse Überschneidungen mit den anderen Typisierungen aufweist. Der gemeinsame Nenner könnte sein, dass allen drei Typen eine bewusste Steuerung innewohnt, das Leben nicht nur als eine Abfolge von Zufällen zu sehen. Die Sinnfrage schwingt hierbei immer mit, wobei der Frage nach dem Woher und dem Wohin ein hohes Gewicht zugebilligt wird. Während der „radikale Mensch“ sein Augenmerk auf die Wurzeln allen Seins gerichtet hat und er sich von der Frage leiten lassen will, ob ein Abweichen seines Weges mit seinen Prinzipien vereinbar ist, richtet der „spirituelle Mensch“ seine Aufmerksamkeit auf die geistigen Wurzeln der Seinsfragen. Der „strukturierte Mensch“ will dem Chaos eines von Launen und Zufällen des Weltgeschehens gesteuerten Lebens entkommen und zumindest versuchen, seinem Leben eine Struktur zu geben, die von selbst gesteckten Zielen gebildet wird. Strukturen brauchen eine geistige Grundlage, weil es die Ideen sind, die diese bilden, darin liegt die Brücke zum „strukturierten Menschen". Wie weit diese Ideen in der Realität dann zur Verwirklichung kommen, liegt beim „radikalen Menschen“ an dessen innerer Gesinnung und Standfestigkeit. Diese Standfestigkeit können am besten in Krisen bewiesen werden [14]. Allen drei Typen liegt auch als einem gemeinsamen Nenner die Überzeugung inne, dass es über die eigene Person hinausgehende Bezugspunkte geben muss, die der Welt eine Struktur geben, die auf geistige Prinzipien zurückgehen, die in ihrer Radikalität eigentlich ernst genommen werden sollen, um nicht im Chaos einer völlig sinnlosen Welt unterzugehen. Alle Versuche der Menschen, hier zu einer Art „Selbstdefinition“ zu gelangen, können getrost als gescheitert angesehen werden, weil diese meistens von egoistischen Motiven geprägt sind. Wer nicht an einen Gott glaubt, der uns in dieser Frage helfend zur Seite steht, aber den Menschen das Geschenk der Entscheidungsfreiheit lässt, erschafft sich Götzen, die diese Lücke füllen sollen, was regelmäßig in diktatorische Systeme führt, in denen diesen Götzen alles geopfert wird [15].  

 

   

©beim Verfasser

 

 



[2] Ich hatte in der Zeit meiner Berufstätigkeit eine Betreuung über einen „Messie“ übernommen, der in einer völlig chaotisch anmutenden Wohnung lebte, deren Flure und Wände mit allen möglichen Gegenständen gefüllt waren. Umso mehr wunderte ich mich, als ich nach einem bestimmten Dokument fragte und mir völlig klar war, dass er dieses bestimmt nicht beibringen konnte, denn er fischte das Stück Papier zielsicher aus einem „Haufen Müll“ heraus und gab es mir.

[3] Mein Vater erzählte einmal von einem Beamten im Gericht, der in der Vollstreckungsabteilung arbeitete und sich die Beschwerden häuften, dass bestimmte Aufträge von Gläubigern unbearbeitet geblieben waren, bis eines Tages herauskam, dass dieser zwar äußerlich immer einen aufgeräumten Schreibtisch hatte - was irrtümlich darauf schließen ließ, dass dieser Beamte auch tatsächlich in seiner Arbeit zuverlässig war -, aber bei einem Öffnen des Schreibtisches alle unerledigten Akten zutage traten.

[9] Und es ward ausgeworfen der große Drache, die alte Schlange, die da heißt der Teufel und Satanas, der die ganze Welt verführt, und ward geworfen auf die Erde, und seine Engel wurden auch dahin geworfen. https://www.biblegateway.com/passage/?search=Offenbarung%2012%3A7-12&version=LUTH1545

[12] Beim Gleisbau wird z. B. zwischen den einzelnen Schienensträngen immer ein kleiner Abstand gelassen, damit durch Temperaturänderungen die Gefahr durch das Zusammendrücken bei etwa zu großer Hitze minimiert wird.

[13] Siehe „Sind die 10 Gebote heute noch gültig“; https://www.guentherbirkenstock.de/neue-seite

[15] Die Partei der Grünen haben einen solchen Götzen geschaffen, dem alles untergeordnet wird: Klimawandel. Ihm soll dann sklavisch alles andere geopfert werden: Wohlstand, individuelle Freiheit, Selbstbestimmungsrecht durch einen bevormundenden Staat.

von Günther Birkenstock 19. Oktober 2024

Den spirituellen Menschen treffen wir manchmal, nicht sehr oft, denn er gehört sicher zu einer seltenen Spezies. Ähnlich wie der radikale Mensch [1] ist er eine Sonderform des Menschseins, die wahrlich schwer zu beschreiben ist.  Ich will es trotzdem versuchen. Hier sind die aus meiner Sicht wichtigsten Aspekte:

 

·         Spirit und Geist – zwei Paar Schuh: Obwohl die deutsche Sprache sehr nuancenreich ist, versagt sie, wenn es um die Unterscheidung zwischen Geist und Spirit geht. Im englischen Sprachraum wird hier zwischen „spirit“ und „mind“ unterschieden. Das Wort „spirit“ bedeutet zwar auch das alkoholische Getränk des Schnapses, aber in einem anderen Kontext gebraucht auch die Seele oder ein überirdisches Wesen [2]. Das Wort „mind“ bedeutet in erster Linie Verstand oder Meinung [3] und wird im Kontext des Alltages so verwendet, dass hiermit das Verstehen im direkten Sinne gemeint ist. Da aber im deutschen Sprachgebrauch diese Unterscheidung nicht existiert, wird das Wort „Geist“ meist dann verwendet, wenn es um geistige Vorgänge des Denkens, des unmittelbaren Verstehens oder des Erfassens von Sachverhalten der verschiedensten Art geht. Es wird dann auch gerne im psychologischen Sinne von Kognition gesprochen, weil damit alle Prozesse beschrieben werden, die mit der Informationsaufnahme, ihrer Verarbeitung und ihres entsprechenden „Output“ zu tun haben [4]. Mit „Spirit“ ist aber etwas anderes gemeint, das nicht so einfach zu beschreiben ist. Es geht hierbei über den rein informativen Aspekt des Verstehens hinaus. Dies wird dann eher deutlich, wenn vom „spirituellen Weg“ gesprochen wird. Gleichsam wie ein Wanderer, der seine heimischen Gefilde verlässt und sich auf den Weg macht zu einem unbekannten Land, so begibt sich auch ein spiritueller Mensch auf eine unbekannte Reise, wenn er den „spirituellen Weg“ einschlägt. Er hat dabei den Mut, die essentiellen Fragen zu stellen: Wer bin ich, woher komme ich, wohin gehe ich, wozu bin ich hier? [5] Der Weg des Suchenden auf dem Weg in das unbekannte Land der Welt, die über unsere irdische, materielle Daseinsform hinausgeht, ist das, was mit dem Wort „Spirit“ im Innersten wohl gemeint ist. Wie könnte also nun der spirituelle Mensch beschrieben werden?  

·         Weltverständnis: Die Welt des spirituellen Menschen geht auf jeden Fall über unsere Alltagserfahrung hinaus. Er versucht auf seinem spirituellen Weg gleichsam die Welt als eine Bühne zu sehen, auf der Theaterstücke aufgeführt werden, in denen anscheinend jeder eine bestimmte Rolle spielt. Diese Rollen werden entweder zugewiesen oder im besten Falle selbst gewählt. Diejenigen, die die Rollen bereitwillig übernehmen, die ihnen angeboten werden, unterscheiden sich noch von denjenigen, die sich diese bewusst wählen. Je nach charakterliche Ausrichtung werden dann wohl anscheinend diese Rollen angenommen oder gewählt: Der Bösewicht oder der Heilige, der Naive oder Skeptiker, der Held oder der Feigling, der Hanswurst oder Wichtigtuer. Diese Rollen scheinen oft diametrale Positionen zu beschreiben, die in dieser Welt angenommen werden können. Jeder, der sich dann in einer dieser Rollen befindet, kann dann diese bewusst mehr oder weniger gut spielen, die vorgeschriebenen Texte gut aufsagen und eben dann vielleicht „gute Miene zum bösen Spiel“ machen, aber ein unbefriedigendes Gefühl des Fremdbestimmtseins bekommen. Der spirituelle Mensch wird gar nicht erst versuchen, eine bestimmte Rolle zu spielen, sondern sich fragen, wer das eine oder andere Theaterstück wohl geschrieben hat, wer hier die Regie führt und ob das Mitspielen überhaupt das ist, was er will.

·         Weltskepsis: Der nächste Schritt des spirituellen Menschen ergibt sich bereits aus dem Weltverständnis, die Welt als eine Bühne zu sehen. Er wird diese Welt nicht so akzeptieren, wie sie sich ihm darbietet und nicht gerne eine Rolle übernehmen, die ihm angeboten wird. Er wird eine argwöhnische Haltung einnehmen und zunächst einmal auf Distanz gehen und versuchen, die Welt aus einer anderen, vielleicht auch höheren Welt zu betrachten und deshalb eine Haltung einnehmen, die zu einer Weltverneinung oder im besten Falle zu einer Haltung führen kann, diese Welt nicht als finale Form des Daseins zu akzeptieren, sondern zu versuchen, sie zu überwinden [6]. Diese Weltskepsis ist typisch für den spirituellen Menschen, der dem Alltagsmenschen deshalb oberflächlich erscheinen mag, weil er anscheinend gleichgültig wirkt, wenn es darum geht, in dieser Welt eine „große Rolle“ zu spielen. Der Erfolgstyp, der in unserer Welt meint, sich irgendwie durch eine besondere Art seiner Selbstverwirklichung hervorzutun, wird kein Verständnis für die Weltabgewandtheit des spirituellen Menschen haben und ihn versuchen, ihn zum Mitmachen zu animieren. Die Welt des Politikers, in der der Erfolgsmensch zu Hause ist, wird vom spirituellen Menschen deshalb abgelehnt, weil er sehr schnell spürt, dass er ein Tummelplatz von egozentrischer Narzissten ist, auf dem diese versuchen, sich selbst zu verwirklichen. In den gegenwärtigen Zeiten des politischen Geschehens in Deutschland überkommt doch dem spirituellen Menschen ein Grauen, wenn er sieht, mit welchen Tricks diejenigen sich hier hervortun, die glauben, auf dieser Bühne eine gewichtige Rolle spielen zu können. Die Wahlen im Osten Deutschlands, bei denen der so genannte „Wählerwille“ durch die maßgeblichen Politiker nach eigenem Gusto verbogen wird, zeigen doch auf, wie sehr die Politik, insbesondere durch die Macht der Parteien, zu einem Spielfeld dubioser Figuren geworden ist [7]. Der spirituelle Mensch wird sich auf diese Bühne nicht begeben, sondern sich hiervon abwenden. Auch in anderen Bereichen der Gesellschaft tut sich der spirituelle Mensch schwer, sich zu engagieren wie z. B. in der Wirtschaft, wo es darum geht, sich selbst möglichst teuer zu verkaufen oder andere zu übervorteilen, um selbst einen Profit einzuheimsen. Die geruhsame Tätigkeit in einer Behörde als Beamter, in der er nach vorgefertigten Vorschriften zu funktionieren hat, wird ihn auch nicht begeistern. Könnte er eine freie Wahl treffen, wo er sich in dieser Welt engagieren sollte, dann wird er sich fragen, wo er am ehesten mit seinen Fähigkeiten anderen dienlich sein kann [8].

·         Wahrheitssuchender: Die Wahrheit zu finden, ist für den spirituellen Menschen ein unverzichtbarer Bestandteil seines Lebens. Dabei wird er nie aufhören, Fragen zu stellen und sich nicht vorschnell mit Antworten von wissenschaftlichen Autoritäten zufrieden geben. Die Wahrheit als wichtiges Element der „heiligen drei Elemente“ (Wahrheit, das Gute und das Schöne [9] ) gilt als eine Art Schlüssel, mit dem die Welt erschlossen werden kann. Die kindliche Neugierde wird dem spirituellen Menschen nie abhandenkommen. Er wird deshalb auch auf andere mitunter nervig wirken, weil er stets alles hinterfragt, was für andere doch irgendwie selbstverständlich ist. Glaubensdogmen gibt es für ihn nicht. Die herkömmlichen Religionen, vor allem dann, wenn sie durch menschliche Bedürfnisse nach Macht und Einfluss sowie Daseinssicherung geprägt sind, wird er ablehnen oder ihnen zumindest skeptisch begegnen. Die Wahrheit kann für ihn nicht oben diktiert, sondern nur selbst entdeckt werden. Er wird deshalb nicht immer mit dem zufrieden sein, was ihm von anderen als unumstößliche Wahrheiten präsentiert wird, sondern lieber in der Unsicherheit leben, zu wissen, dass er eigentlich nichts sicher weiß [10]. Diese Unsicherheit auszuhalten fällt vielen Menschen schwer, weshalb sie sich gerne mit „Halbwahrheiten“ und „Scheinwahrheiten“ zufrieden geben, weil sie dann sich in einem scheinbaren Sicherheitsgefühl wähnen, etwas sicher zu wissen.

·         Bescheidenheit:   Es gibt eine Bescheidenheit, die aus der Einsicht herauswächst, niemals ganz sicher im Besitz der Wahrheit zu sein. Deshalb wird die Bescheidenheit als ein wesentliches Merkmal eines spirituellen Menschen zu beobachten sein. Diese Selbstzurücknahme wird sich von der Aufgeblasenheit mancher Zeitgenossen wohltuend abheben, die in ihrer maßlosen Selbstüberschätzung glauben, die Welt mit dem beglücken zu können, was sie wissen und können. Der narzisstische Mensch ist in dieser Hinsicht der krasse Gegenpart zum spirituellen Menschen, weil er sich selbst gerne im Mittelpunkt des Weltgeschehens wähnt und glaubt, dass es ohne ihn nicht ginge, er also eine wichtige Rolle spiele. Diesem fällt es schwer, von dem los zu lassen, was ihm dazu dient, sich selbst in den Vordergrund zu spielen: Macht, Geld, Ruhm. Der Narzisst wird stets versuchen, die Macht so lange wie möglich zu behalten, wird sich an sie klammern und glauben, dass sie ihm nicht verloren gehen kann, solange er sie wie ein trotziges Kind gegen andere verteidigt. Der Geizige wird jeden Cent wichtiger nehmen als Menschen oder andere Lebewesen und glauben, dass er mit Geld alles kaufen kann und der Prominente, der aufgrund günstiger Umstände im Rampenlicht des Lebens steht, wird stets das Scheinwerferlicht der Weltbühne anhimmeln, weil er glaubt, dass dieses sein vielleicht dürftiges Dasein erhellen kann. Alles dies ist dem spirituellen Menschen unwichtig,  weil er weiß, dass es alles vergängliche Dinge sind, die so schnell verloren gehen können, wie sie gewonnen werden.

·         Mehr Sein als Schein: Erich Fromm hat in seinem Buch vom „Sein oder Haben“ [11] sehr gut den Unterscheid zwischen Sein und der auf der Haben-Struktur beruhenden Lebensweise des Scheins beschrieben. Der schöne Schein beruht auf einer Daseinsform, die auf das Festhalten von Dingen beruht, auf dem Besitzen von allem, was diese Welt zu bieten hat. Diese können vorgeführt,  der Welt vorgezeigt werden mit der Absicht: Seht her, das habe ich alles errungen, das sind meine eroberten Trophäen, das ist mein Vermögen. Die Werbung hat dieses Ansinnen, durch das Vorzeigen von dem, was man hat, die eigene Person aufzuwerten und damit eine Scheinwelt zu präsentieren, geschickt genutzt [12]. Das Sein hingegen beruht auf dem Lebendigen, das nicht auf das Festhalten beruht, nicht auf das Besitzen materieller Güter, sondern auf das Verwirklichen eines wirklichen, authentischen Sein-Wollens abzielt. Das „Haben-Wollen“ hat etwas damit zu tun, dass wir das Lebendige beschränken und letztendlich töten müssen, um es wirklich haben zu können, weil die Freiheit und letztendlich das Lebensrecht des anderen immer tangiert wird, wenn wir etwas oder jemanden haben wollen. Wer die Blumen pflückt, um dann diese Blumen zu haben, muss sie vorher aus ihrer angestammten Daseinsform herausreißen, sie letztendlich töten, um sie dann in eine Vase zu stellen, in der sie dann verkümmern und sterben. Die Tiere im Zoo müssen ihrer Freiheit beraubt werden, damit sie in dem eingehegten Dasein, das von Menschen geschaffen wurde, ein erniedrigendes Leben führen können. Der spirituelle Mensch wird die Daseinsform des Seins bevorzugen, weil sie die Freiheit aller Daseinsformen erst ermöglicht und allem dabei hilft, sich zu entfalten und weiter zu entwickeln. Der schöne Schein steht dann hinter dem wirklich lebendigen Sein.  

·         Sicherheit im Gottvertrauen: Der spirituelle Mensch ist ein religiöser Mensch. Religion wird bei ihm keinesfalls als ein auf Dogmen, festen Regeln, Heilsversprechen und heiligen Ritualen bestehendes System gesehen, sondern geht in die Richtung, wie dies auch Jesus beschrieben hat, nämlich als ein kindliches Annehmen der Sicherheit, wie sie ein guter Vater seinem Kind geben kann (Matthäus 18, 2-4 [13] ). Die Unsicherheit in unserer Welt, die die Versicherungsbranche geschickt nutzt, um eine Absicherung aller Lebensrisiken zu versprechen, dient letztendlich den Mächtigen unserer Welt, ihre Vorherrschaft zu behaupten. Sie suggerieren den aus ihrer Sicht gesehenen Untertanen eine Scheinsicherheit, indem sie ihnen vorschlagen, dass diese ihnen ihrer Freiheit opfern sollen, um als Gegenleistung diese Art der Sicherheit zu erhalten. Leider erweist sich dies immer wieder eine Falle, in die viele Menschen hineintappen, denn sie opfern dabei leider beides: Sicherheit und Freiheit. Ganz anders geht es dem spirituellen Menschen, der auf diese Scheinsicherheit gerne verzichtet und deshalb nicht auf die geschickten Manöver der Mächtigen hereinfällt. Der Grund besteht tatsächlich in dem naiven Gottvertrauen, das ihm hilft, die Unsicherheit unserer materiellen Daseinsform zu ertragen. Unter der Voraussetzung eines Gottes, der wie eine ewige Kraftquelle von Anfang existiert und über allem Geschaffenen seine schützende Hand hält erscheint es absurd anzunehmen, dass alles Relative, also alles Geschaffene, dann in Unsicherheit gelassen würde. Die Vergänglichkeit unseres Daseins und aller damit verbundenen Scheinsicherheiten verschwinden angesichts dieser Annahme im Nichts und weichen einer Zuversicht, die dem allem trotzt.    

Der spirituelle Mensch ist der eigentliche Mensch, der sich abhebt von dem Menschen, der diese Art Geistigkeit zugunsten von Scheinsicherheiten aufgegeben hat. Ein spiritueller Mensch zu sein ist und sollte deshalb für jeden erstrebenswert sein. Für mich ist der spirituelle Weg die wahre Daseinsform, die trotz aller Hindernisse nicht verzichtbar ist..

 

©beim Verfasser

 

 

               


[10] Diese Einsicht geht auf die Antike zurück und zwar auf den griechischen Philosophen Sokrates, der dies in seiner Verteidigungsrede so formuliert hat: „ Allein dieser doch meint zu wissen, da er nicht weiß, ich aber, wie ich eben nicht weiß, so meine ich es auch nicht. Ich scheine also um dieses wenige doch weiser zu sein als er, dass ich, was ich nicht weiß, auch nicht glaube zu wissen.“ https://www.die-inkognito-philosophin.de/blog/ich-weiss-dass-ich-nichts-weiss

[12] Der Werbespot der Sparkasse von 1995, in dem sich zwei alte Bekannte treffen und mit ihren Errungenschaften prahlen, zeigt, auf was es scheinbar ankommt in dieser Welt. Zuerst prahlt Herr Schröder mit Fotos, auf denen seine Besitztümer abgebildet sind und sagt: „Mein Haus, mein Auto, mein Boot.“ Herr Schober kontert ebenfalls mit Bildern und sagt: „Mein Haus, mein Auto, mein Boot“ und ergänzt „meine Pferde (es werden Bilder von Pferden gezeigt) und meine Pferdepflegerinnen (Fotos von drei hübschen Frauen werden gezeigt)“.

); https://www.youtube.com/watch?v=DbqcRG-CT30

[13] Jesus: „Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, werdet ihr nicht in das Himmelreich hineinkommen. 4 Wer sich so klein macht wie dieses Kind, der ist im Himmelreich der Größte.“ https://www.bibleserver.com/EU/Matth%C3%A4us18

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